Beim Zeichnen und Malen muss nicht alles gelingen, aber…
Einen Menschen zeichnen – ist das auf die Dauer nicht immer das gleiche? Einen Berg malen – wird das nicht eintönig? Claudia Züllig kann erklären, weshalb dem nicht so ist und warum Aktzeichnen eine meditative Wirkung auf sie hat. Die St.Galler Künstlerin begrüsst eine breite Öffentlichkeit in den Kursen Aktzeichnen und Aktmalen und in der Malwerkstatt – und an der Zeichennacht vom 17. November 2023. Zeitungsartikel aus früheren Jahren unterstreichen die riesige Erfahrung von Claudia Züllig und ihre Faszination fürs Detail.
Claudia Züllig, Brille, kurze graue Haare, ist die Kursleiterin. An diesem regnerischen Spätherbstabend strahlt sie Herzlichkeit und Wärme aus. Der Zeichnungssaal ist ein hoher, nüchterner Raum mit Novilonboden und grosszügiger Fensterfront. Staffeleien sind im Halbkreis um ein Podest angeordnet. Später wird Claudia Züllig sagen: «Dieser Zeichnungssaal ist der denkbar unerotischste Ort.»
Journalistin Christina Genova besuchte als Vorschau auf die allererste Zeichennacht den Kurs von Claudia Züllig an der Schule für Gestaltung. Erschienen ist der Beitrag am 7. Oktober 2016 im St.Galler Tagblatt.
Der Zeichnungssaal ist Claudia Zülligs zweites Wohnzimmer. Hier ist es ihr in den vergangenen 45 Jahren noch nie langweilig geworden: «Auch nach so langer Zeit, entdecke ich am menschlichen Körper immer wieder Neues. Für mich ist es eine beseelte Landschaft.» Im Aktzeichnen gehe es nicht darum, anatomisch korrekt vorzugehen. Das Auge wird fürs Detail geschult. Züllig hält es dabei wie der Schweizer Maler Giovanni Giacometti. Dieser sagte von sich selbst, dass er seine Mutter trotz 100 Zeichnungen noch nicht perfekt zu Papier gebracht habe.
Damit die Zusammenarbeit zwischen Künstler*in und Modell funktioniert, braucht es gegenseitige Wertschätzung. Ausserdem muss sich das Modell wohl fühlen. «Dazu gehören ein zufriedenes Körpergefühl und eine gute Körperspannung. Dann passt es auch für den Betrachter.» Sie habe schon häufig festgestellt, dass Personen, die im Alltag mit ihrem Körper arbeiten, leichter Modell-Stehen. Gemeint sind damit Physiotherapeuten*innen, Schauspieler*innen oder Tänzer*innen.
«Du machst es einem aber auch leicht. Du hast so eine offene und herzliche Art. Und dir ist es wichtig, dass es die Modelle guthaben. Dass es bequem ist, es Musik hat, die Posen nicht zu lange sind. Ausserdem gibst du Rückmeldungen, wenn was gut ist – und auch, wenn was mal nicht so stimmig ist. Damit hilfst du deinen Modellen.»
Aktmodell Lilian Koller zu Claudia Züllig in einem Interview des Blogs der-puck.ch am 20. September 2015.
An der Schule für Gestaltung unterrichtet Claudia Züllig auch die Fachklasse Grafik und im Gestalterischen Vorkurs. Berufsbezogenes Skizzieren heisst ihr Fach. «Die Jugendlichen haben sich häufig für den Beruf Grafiker*in entschieden, weil sie gerne Malen und Zeichnen. Trotz Digitalisierung sollen sie dranbleiben und sich selber mit Stift und Papier ausdrucken können», so die Lehrerin. Sie selbst, will das, was im Kopf passiert, aufs Blatt bringen. Sie mag den Widerstand, wenn sie mit dem Stift auf Papier zeichnet. «Wenn ich eine Idee aufzeichne, dann nimmt sie Formen an. Das entlastet mich im Denken.»
Claudia Züllig zeigt den Jugendlichen auf, dass ein Bild auf verschiedene Wege entstehen kann: durch Fotografie, Zeichnen oder Malen. Es stehen mehrere Mittel zur Verfügung, um seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Die Künstlerin hält fest, dass alle Varianten ihre Berechtigung haben. «Ich persönlich aber brauche die Verlangsamung, die mir das Zeichnen auf Papier bietet. So hält die Kreativität in meinem Kopf schritt und ich schule meine gestalterischen Fähigkeiten nicht ausschliesslich mit digitalen Möglichkeiten.»
«Jahreszeiten, Schnee und Wetter – auch Berge sind den Rhythmen der Natur unterworfen, das zeigen diese Bilder neben der Faszination der eigentlichen Form auch. Claudia Züllig entwirft imaginäre Landschaften. Ein Stein kann so auch zum Gebirgsmassiv werden, ein tatsächlicher Berg zu einem blossen Felsenrelief. Das Grosse ist im Kleinen, das Kleine im Grossen. Mit sensiblem Sinn und Blick für die Naturformen und ihre Wandelbarkeit sind diese Ölbilder entwickelt.»
Journalist Martin Preissig im St.Galler Tagblatt am 26. November 2012 über die damalige Ausstellung in der Galerie vor der Klostermauer.
Über diese Vielseitigkeit und Flexibilität freut sich Claudia Züllig auch in ihren öffentlichen Kursen. Sowohl beim Aktmalen als auch in der Malwerkstatt ist es ihr Ziel, trotz derselben Aufgabenstellung individuelle Lösungen von den Teilnehmenden zu erhalten. «Sie sollen sich weiterentwickeln und nicht das anwenden, was sie schon können. Es braucht Mut, die Komfortzone zu verlassen und zu akzeptieren, dass auch etwas schief gehen kann», sagt Züllig.
In der Gruppe sei es einfacher, etwas zu wagen. Das erste Werk der Nachbarin oder des Nachbars ist nämlich auch nicht auf Anhieb das Beste. Züllig erklärt: «Sich mit dem eigenen Werk auseinanderzusetzen gehört dazu. Es hilft auch mir weiter, in den Kursen zu sehen, dass die Teilnehmenden an Grenzen stossen und diese überwinden. Kunst entsteht nicht einfach so.»
Wichtig ist Claudia Züllig, dass sie trotz ihren Lektionen an der Schule für Gestaltung noch selber Zeit findet, um in ihrem Atelier zu arbeiten. Sie blickt auf Ausstellungen im Bernerhaus in Frauenfeld, im Kongresszentrum Davos oder in der Galerie vor der Klostermauer zurück.
«Claudia Züllig beobachtet die Natur aufmerksam und übersetzt die Betrachtungen in Bilder. Zugleich aber gelingt es der Künstlerin, sich von der blossen Naturnachahmung zu befreien und ihre Untersuchungen zum Verhältnis von Fläche und Raum voranzutreiben. So porträtiert sie auch den Nebel als eines der flächigsten Elemente in der Natur. Er egalisiert Raum und Licht, ist noch homogener als eine Schneefläche.»
Journalistin Kristin Schmidt im St.Galler Tagblatt am 21. Juni 2014 über die damalige Ausstellung in der Galerie Oertli.
Die Kursteilnehmenden von Claudia Züllig schärfen ihre Beobachtungsgabe. In der Malwerkstatt wird derzeit die Figur im Raum betrachtet. Jedes Semester steht dabei unter einem anderen Thema, zum Beispiel werden Berge, Wälder oder die Farbe Gelb thematisiert. Oftmals besuchen Lehrpersonen den Kurs, um ihr eigenes Repertoire zu erweitern und um Gestaltungsfragen zu klären. «Und genau darum geht es», sagt Züllig und ergänzt: «Man muss beim Zeichnen und Malen nicht alles gut können. Das Wichtigste ist, das eigene Repertoire zu erweitern und verschiedene Wahrnehmungen einzunehmen.»