Frei nach Lessing: Berufsmatura überschreitet Grenzen
Eine Inszenierung, die unter die Haut ging und die das Publikum mit Fragen zurückliess: Wer bin ich? Und wer sind wir in unserer Gesellschaft? Wie gehen wir mit Grenzen um? Und was gibt uns einen Sinn? Die Theaterproduktion «GRENZ-über-SCHREI-tun(g)» der Berufsmaturitätsschule am GBS St.Gallen regte in der Offenen Kirche zum Nachdenken an. Die Begeisterung über das Stück – ein klassenübergreifendes Gemeinschaftsprojekt – war auch im Publikum sichtlich spürbar.
Was nach den Sommerferien 2023 begann, erreichte im März 2024 mit fünf Aufführungen einen Abschluss mit tosendem Beifall. BM-Lernende und die Projektleiterinnen Rahel Leisi und Julia Geröcs fingen im August gemeinsam an, Gotthold Ephraim Lessings «Nathan der Weise» frei in unsere Zeit zu übertragen. «Ein herzliches Dankeschön allen Mitwirkenden der BM-Abschlussklassen! Ihr habt mit eurer persönlichen Begabung, eurem fachlichen Know-How und – last but not least – mit viel Herzblut zum Gelingen des Theaterprojektes beigetragen!», lobt Rahel Leisi.
Lessing gelang 1779 ein Höhepunkt der Aufklärungsliteratur. Das Drama behandelt Themen wie die Bedeutung von Menschlichkeit und Vernunft sowie die friedliche Koexistenz verschiedener Religionen. Die Figur Nathan erzählt im Stück die Ringparabel, wobei der Ring für den Glauben an eine Religion steht.
In der modernen Inszenierung «GRENZüberSCHREItungG» kreuzen sich die Wege ehemaliger Schüler/-innen und ihres Lehrers Nachman. Dabei müssen sich die Figuren Fragen des Lebens stellen. «Alle durchlaufen während des Stücks einen Entwicklungsprozess, ankommen wird aber keine der Figuren», erzählt Rahel Leisi. Schauspielerin Rebeka war besonders gespannt darauf, wie das Stück beim Publikum ankommt: «Wir greifen einige heikle Fragestellungen der heutigen Gesellschaft auf. Dazu gehören Themen wie Gewaltbereitschaft, Geschlechterrollen, Social Media, Leistungsgesellschaft, Sinnsuche und Tod. Wir fragten uns, ob sich die Zuschauer/-innen darauf einlassen würden?»
Die Religionsfrage
Die Religionsfrage flammt im Vergleich zum Original nur hie und da auf. Am Ende des Stücks erfährt das Publikum, dass Nachman (Original: Nathan) jüdischer Abstammung ist. Sira (Original: Sittah) hat sich vom muslimischen Glauben abgewendet, weil sie aufgrund des Kopftuches von der Gesellschaft benachteiligt worden ist. «Und der Politiker Sascha ist Atheist, bei dem Machtstreben und Materialismus religiöse Züge annehmen», erklärt Rahel Leisi.
Das postdramatische Theater
Die Rollen entwickelt hat unter anderem Berufsmaturitätsschülerin Barbara Bollhalder, die gemeinsam mit Samuel Ammann, Benjamin Kessler und Nina Sutter das Stück verfasste und während der Proben und Aufführungen in der Regiegruppe mitwirkte. Zu Beginn kostete es die Informatikerin Überwindung, den Schauspielenden gegenüber Kritik zu äussern. «Man will ja niemanden verletzen», sagt sie. Zwei Wochen vor der Hauptprobe waren die Schauspielenden noch etwas textunsicher. Das wirkte sich auf die Lautstärke und die Bewegungsfreiheit aus.
Barbara meint dazu: «Sie sollen den Raum füllen – nicht nur mit der Lautstärke, sondern auch mit der Bedeutung ihrer Worte.» Schauspieler Ignacio Staubli bekräftigt: «Die grössten Fortschritte habe ich bemerkt, als ich den Text auswendig konnte. Sobald ich kein Skript mehr in den Händen hielt, konnte ich mich viel besser auf die Bewegungen konzentrieren.».
Die Idee war es, das klassische Drama im Sinne eines modernen (postdramatischen) Stückes umzuschreiben. Dabei können Stile und Inszenierungselemente kombiniert und überlagert werden. So werden Szenen in ihrer chronologischen Reihenfolge ausgetauscht, Figuren sprechen zeitweise simultan, musikalische Sequenzen wechseln sich mit Dialogen ab, Spoken-Word-Passagen und Satzfetzen ergänzen sich. So zitiert Nachman (Ignacio Staubli) Verse aus dem Ursprungswerk, während Alain (Samuel Ammann) Jugendslang spricht, der Musiker (Stefan Hansen) spielt gleichzeitig einen Therapeuten und untermalt Szenen musikalisch. Und die Figur Leon/a wird von zwei Personen gespielt (Noemi Fauster und Leona Dieckmann), wodurch ihre innere Zerrissenheit veranschaulicht werden soll.
Bühne und Publikumsraum werden nicht klar voneinander getrennt, die Szenen spielen an verschiedenen Orten im Raum, Figuren treten mit dem Publikum in Interaktion. Wir sollen uns als Zuschauende nicht mehr mit den Figuren identifizieren, sondern reflektieren, was auf der Bühne und in unserem Umfeld passiert.
Die fünf Interdisziplinären Projektarbeiten
Aus dem klassenübergreifenden Theaterprojekt «Grenzüberschreitung» entstehen gleich mehrere Interdisziplinäre Projektarbeiten: Regie- und Dramaturgie, Kostüme, Werbung, Schauspiel und Bühnentechnik.
Die Kostümgruppe (Alina Brunner, Alisha Hüppi, Anina Jäger und Ariana Sonderegger) entwickelte ein Konzept für die Bekleidung der Figuren, entwarf die Kostüme, nähte Kleidungsstücke selbst um und übernahm die Verantwortung für das Erscheinungsbild der Figuren während der Auftritte. Zu jeder Figur suchte die Kostümgruppe nach einem passenden Objekt, das Bestandteil der Bekleidung wurde. So widerspiegeln die roten Kissen auf den schwarzen Lederjacken von Leon/a den inneren Konflikt zwischen Verletzlichkeit und Gewaltbereitschaft.
Engagiert und gestalterisch begabt, setzte sich die Werbegruppe, bestehend aus vier angehenden Grafikerinnen der Fachklasse (Gloria Guerra, Stephanie Heckers, Jaymie Sanwald und Vera Thurnherr) für ein visuell ansprechendes Design des Projektes ein. Sie hatten die Idee, Grenztapes zu bedrucken, welche das Bühnenbild schliesslich prägten. Neben den Flyern und Plakaten gestalteten sie einheitliche T-Shirts für das Team, fotografierten während der Aufführungen und bespielten den Instagram-Account mit Fotos und Videos.
Den Blickwinkel der Bühnentechnik nahm Robin Hutter ein. Als Licht- und Tontechniker waren er, Kai Schönenberger und Simeon Heuberger dafür verantwortlich, die Mikrofone im richtigen Moment stumm zu schalten und mit den musikalischen Einspielern die Dramaturgie zu betonen. «Die Theatertechnik fasziniert mich sehr. Hier sind wir alles Laien, die zum Glück gut miteinander kommunizieren. Alle involvierten Personen äussern ihre Ziele und nehmen Rücksicht aufeinander», sagt Robin.
Tony und der Schluss des Stückes
Rebeka absolviert die Berufsmatura im Jahreskurs nach Abschluss ihrer Ausbildung. Sie reagierte auf die Ausschreibung per E- Mail, weil sie Lust verspürte, wieder einmal Geige zu spielen. Letztlich schlüpfte die orchester- und musicalerfahrene Rebeka sogar in zwei Rollen. Sie stand als Sira und Tony auf der Bühne. «Tony ist mit allen aus der Klasse von Lehrer Nachman vernetzt, wird aber vermisst. Sie tritt als Geigenspielerin auf, die von den anderen nicht wahrgenommen wird», schildert Rebeka.
Tony ist eine Figur, die neu ins Stück integriert wurde. Deutschlehrerin Rahel Leisi erläutert die Beweggründe: «Tony steht einerseits exemplarisch für Menschen, die Grenzüberschreitungen wie Missbrauch oder Diskriminierung erlebt haben. Andererseits stellt sie den verbindenden Dialog dar, den die Figuren – und wir alle – für ein gelingendes Miteinander in einer komplexen Welt brauchen.»
Das Stück endet mit einer Szene in einem abstrakten Raum. Das Therapiezimmer, aus Stäben zu einem Würfel zusammengesetzt, wird dekonstruiert – die Figuren bewegen sich choreografiert gemeinsam durch den Raum. Sie führen Angefangenes zu Ende, aber am Schluss bleibt dennoch Vieles offen. Auch die Frage, ob es überhaupt noch einen Ring gebe, der in diesem Stück für eine subjektive Wahrheit oder einen möglichen Sinn steht.